Sonntag, 4. Mai 2014

"Des Kaisers neue Kleider"

oder die Reformen des Gerhard S.
frei erzählt nach einem Märchen von H. Ch. Andersen


Vor vielen Jahren lebte ein Kaiser, der soviel von sich und auf seine Reden hielt, dass er alles dafür gab, nur um Herrscher zu sein. Er kümmerte sich nicht um sein Volk, es interessierte ihn nicht, er liebte es nicht, sich hier und da einmal unter das Volk, aus welchem er selbst einmal kam, zu mischen, um zu erfahren, was in seinem Lande so vor sich ging. Er hatte verschiedene Reden parat, für jede Stunde des Tages und wie man sonst von einem Herrscher sagt, seine Hoheit sei eben bei der Arbeit, sagte man hier immer nur: „Der Kaiser steht wieder vor dem Spiegel und übt für einen seiner medienwirksamen Auftritte.“
In der großen Stadt, in der er lebte, ging es immer heiter zu. Jeden Tag kamen viele Fremde, und eines Tages zeigten sich in der Stadt auch zwei Professoren. Sie gaben sich als Weise aus und behaupteten, die größte Weisheit und das größte Wissen zu haben, das die Welt je gesehen habe. Nicht nur das Wissen und die Erkenntnis der Gegenwart sei ihnen eigen, nein, auch das Wissen und die Erkenntnis um die Zukunft hätten sie zu ihrem Eigen gemacht, welches aber für jeden Menschen unerklärlich sei, der nicht für sein Amt tauge oder unverzeihlich dumm sei.
„Das muss aber ein wunderbares Wissen und eine sagenhafte Weisheit sein“, sagte sich der Kaiser. „Wenn ich diese Weisheit und dieses Wissen hätte, wüsste ich gleich, wer in meinem Reich für sein Amt nicht taugt, und ich könnte kluge Leute von Dummköpfen unterscheiden! Diese Weisheit und dieses Wissen müssen mich die beiden sofort lehren!“ Und er gab den Professoren viel Geld, sie mögen sich nur sofort an die Arbeit machen.
Die beiden bildeten sofort eine Kommission und taten recht eifrig, als ob sie arbeiteten. Sie verlangten diese Daten, jene Daten und viel Geld; das steckten sie jedoch in ihre eigene Tasche und arbeiteten an hohlen Phrasen bis spät in die Nacht hinein.
„Nun möchte ich doch wohl wissen, wie weit sie mit ihrem Stoff sind“, dachte der Kaiser, aber gleichzeitig hatte er ein eigenartiges Gefühl ums Herz; er wusste nämlich, dass jeder, der dumm war oder schlecht zu seinem Amt passte, die Darstellungen nicht verstehen würde. Er selbst müsse für sich keine Befürchtungen hegen, dachte er, aber er werde doch lieber vorerst jemand anderen vor schicken, der feststellen sollte, wie es mit der Kommission stehe. Alle Menschen in der ganzen Stadt und dem ganzen Lande wussten bereits, welche eine wunderbare Kraft diese Sache haben sollte, und alle waren begierig festzustellen, wie schlecht oder dumm ihr Nachbar war.
„Ich will zu der Kommission meinen alten ehrlichen Minister M. schicken“, entschied der Kaiser, „der wird wohl am besten herausfinden, wie die Sache aussieht, denn klug ist der Mann und keiner versieht sein Amt besser als er. Deshalb habe ich ihn ja auch dazu berufen.“
Der ehrliche alte Minister ging also in den Saal, in dem die Kommission eifrig an ihrer Agenda arbeitete. „Mein Gott, na so was!“ dachte der alte Mann und riss Augen und Ohren weit auf. „Ich sehe und höre ja gar nichts!“ Aber dies sagte er natürlich nicht.
Beide Professoren führten ihn an die Schreibtische und fragten unterwürfig, ob er mit dem bisherigen Verlauf und den bisherigen Entwürfen der Kommission zufrieden sei. Der Arme riss immer wieder Augen und Ohren auf, so weit er nur konnte, aber er sah und hörte nichts, denn es war ja nichts produziertes da!
„Großer Gott!“ dachte er, „soll das etwa heißen, dass ich dumm bin oder gar für mein Amt nicht tauge? Nein, das darf niemand wissen, dass ich da keine echten Reformen sehe, das geht nicht an!
„Aber was denn, Sie sagen ja nichts dazu!“ sagte der eine Professor.
„Ach nein, es ist ja hübsch, ja allerliebst!“ antwortete der alte Minister und besah sich die Unterlagen durch seine Brille. „Welch eine Erkenntnis! Und diese Vorschläge! Ich werde dem Kaiser berichten, dass mir der Stoff gefällt!“
„Nun, das freut uns“, sagten die beiden Professoren und sie nannten die Vorschläge und erklärten die Details. Der alte Minister hörte gut zu, um dasselbe auch dem Kaiser sagen zu können, und das tat er nach seiner Rückkehr auch.
Die Kommission forderte sogleich weiteres Geld, mehr Verantwortung, welches sie unbedingt zur Lösung der anstehenden Probleme benötigten. Sie steckten alles in ihre eigenen Taschen, auf den Schreibtischen und den Computern kam kaum ein tragbares Ergebnis zu Stande, aber sie fuhren fort, an ihren Konzepten zu arbeiten.
Der Kaiser sandte bald darauf einen weiteren ehrlichen Staatsmann aus, der feststellen sollte, wie die Arbeit der Kommission fortgeschritten sei und ob nicht schon bald das Ergebnis vorliegen werde. Ihm erging es ähnlich wie dem alten Minister, er guckte und guckte, aber vor ihm lagen nur Stapel von Papier und CD`s mit leeren Phrasen und sonst sah er nichts.
„Ist das nicht ein schönes Stück Wissenschaft?“ fragten die beiden Professoren und zeigten und erklärten die Entwürfe, die gar nichts Wesentliches beinhalteten.
„Dumm bin ich nicht!“ dachte der Höfling. „Ist es also mein liebes Amt, für das ich nicht tauge? Das stimmt doch nicht, aber ich darf mir nichts anmerken lassen!“ Und so lobte er den Stoff, den er gar nicht sah und versicherte ihnen seine Freude an den Aussagen und den Details dieser wunderschönen Agenda. Und dem Kaiser berichtete er: „Ja, es ist aller bestens.“
Alle Menschen in der Stadt und im ganzen Land sprachen von dem prächtigen Stoff und dessen Wirksamkeit bei der Lösung der anstehenden Probleme.
Auch der Kaiser wollte den Stoff sehen, während dieser noch bei der Kommission lag. Mit einer ganzen Schar ausgewählter Höflinge einschließlich der beiden ehrlichen Staatsmänner, die bereits vor ihm bei der Kommission gewesen waren, ging er zu den listigen Professoren. Beide diskutierten aus Leibeskräften miteinander, ohne jedoch zu einem Ergebnis zu kommen.
„Nun, ist das nicht prächtig?“ sagten die beiden ehrlichen Staatsmänner. „Eure Majestät sehen ja selbst: welch eine Sache, welch ein Entwurf und was für Details!“ Und sie zeigten auf die Aktenberge, denn sie dachten, dass alle anderen den Stoff nicht sehen konnten.
„Was?“ dachte der Kaiser überrascht. „Ich sehe doch nichts! Das ist ja entsetzlich! Bin ich dumm? Tauge ich nicht dazu, Herrscher zu sein? Das wäre das Schrecklichste, das mir begegnen könnte! Habe ich doch jahrelang dafür gekämpft und geredet, endlich in diese Mauern als Herrscher dieses Landes einzuziehen.“ – „Ja, es ist sehr schön“, sagte der Kaiser also, „es hat meinen allerhöchsten Beifall und ich werde alles sofort eins zu eins umsetzen“, und dabei guckte er auf die leeren Worthülsen und guckte und konnte nichts anderes feststellen als alle anderen, aber sie sagten wie der Kaiser: „Herrlich, wunderschön!“ Und sie rieten dem Kaiser, aus den Entwürfen und diesem prächtigen Stoff eine neue Regierungserklärung und Agenda zu machen, die er bei der nächsten Sitzung des Hofstaates die bevorstand vor zu tragen.
„Dieses Kommissionspapier ist herrlich, exzellent!“ ging es von Mund zu Mund, man war allerseits ehrlich und außerordentlich erfreut darüber, und der Kaiser verlieh den beiden Professoren und der Kommission den Titel „Ritter der Reformen“.
Die ganze Nacht vor dem Vormittag, an dem die Veröffentlichung der Agenda stattfinden sollte, waren die Professoren auf und hatten sechzehn Kerzen angezündet. Alle konnten sehen, dass sie sehr beschäftigt waren, des Kaisers neue Regierungserklärung rechtzeitig fertig zu kriegen. Sie versahen alles mit Überschriften und Untertiteln, sortierten und hefteten ab und sagten zuletzt: „Nun ist die Agenda fertig!“
Der Kaiser kam mit seinem Hofstaat und die Professoren reckten einen Arm hoch, als ob sie in ihrer Hand etwas Gewichtiges hielten und sagten: „Seht, hier sind die Vorschläge zur Rente! Hier die Vorschläge zur Gesundheit! Und hier die Reformen für den Arbeitsmarkt! Die Bildungsoffensive und und und...“
„Alles ist so einfach, man sollte glauben, man habe eigentlich gar keine Probleme; aber eben das ist der Vorzug des Ergebnisses unserer Kommission!“
„Ja!“ sagte der gesamte Hofstaat, aber sie konnten nicht sehen, was da sein sollte, denn in Wahrheit war da nichts.
„Belieben Eure kaiserliche Majestät jetzt die alten Erklärungen und Versprechungen abzulegen“, sagten die Professoren, „damit wir die neuen vorlegen können.“
Der Kaiser legte all seine alten Erklärungen und Versprechen ab und die Kommission tat so, als ob sie ihm Stück für Stück die neuen übergaben. Sie traten an seine Seite, katzbuckelten und schmeichelten ihm und taten so, als ob sie ihm ein neues Wissen und eine neue Macht überreicht hätten.
„Nein wirklich! Wie dies zu ihm passt!“ riefen alle. „Und erst die Details! Welch ein Kunstwerk!“
„Draußen erwartet Euch bereits der Baldachin, der über Eurer Majestät während des Vortrages getragen werden soll“, meldete der Oberzeremonienmeister.
Der Hofstaat verneigte sich, zollte Beifall und schon gingen sie und taten, als ob sie etwas Besonders in ihren Händen hielten.
Und so schritt der Kaiser wie bei einer Prozession unter dem prächtigen Baldachin, und alle Menschen auf der Straße und in den Fenstern riefen: „Gott, wie sind doch die neuen Reformen des Kaisers einmalig! Welch herrliche Details und Lösungen er doch hat! Wie dies alles zu ihm passt!“ Keiner wollte es sich anmerken lassen, dass er nichts von all dem sah, was da so angepriesen und hoch gelobt wurde, denn sonst hätte er für sein Amt nicht getaugt oder wäre gar dumm gewesen.
„Aber dies sind doch alles leere Phrasen!“ rief plötzlich ein kleines Kind am linken Straßenrand. Und die Stimme kam mitten aus dem Volk. “Mein Gott, hört die Stimme der Unschuld!“ sagte sein Vater, und schon flüsterte einer dem anderen zu, was das kleine Kind gesagt hatte.
„Er hat ja wirklich nichts vor zu weisen!“ rief zuletzt das ganze Volk. Dem Kaiser lief es eiskalt über den Rücken, denn er merkte schon selbst, dass die Leute recht hatten, aber er dachte: „Nun muss ich die Prozession schon bis zum Ende aushalten.“ Und so hielt er sich noch aufrechter und der Hofstaat klammerte sich an etwas, was gar nicht da war.
Und während dieser ganzen Prozession eiferten im Hintergrund bereits wieder einige ehemalige Hofräte darum, wer von ihnen und wie am schnellsten man auf den vakanten Thron käme. Auch sie scharrten Professoren und Kommissionen um sich und ließen an einer neuen Agenda und neuen Reformen arbeiten.
Auch diese überboten sich bereits wieder in den Details und ihrem angeblich sicheren Wissen um die Zukunft und ließen sich im Vorfeld dafür reichlich mit Gold und Silber belohnen.
Und es wurde mit flinker Nadel bereits wieder an der nächsten Agenda und den neuen Kleidern für den nächsten Kaiser gestrickt.

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