Gevater
Tod
Fahles
Mondlicht fiel in den, von flackerndem Kerzenlicht erhellten Raum.
Das Flammenspiel der Kerzen warf bizarre Schatten an die Wände und
leuchtete den Raum nur sehr mäßig aus.
Inmitten
dieses Raumes saß in einem geräumigen Ohrensessel ein Mann
mittleren Alters und sinnierte scheinbar teilnahmslos vor sich hin.
Der
Mann wurde sich immer mehr dessen bewusst, dass die Jahre, welche er
bis zum Ende seines Daseins noch vor sich hatte, inzwischen
vermutlich erheblich weniger waren, als die Jahre, welche er bereits
hinter sich hatte.
Längst
war er auch schon ergraut und die vielen Furchen und Falten in seinem
Gesicht zeugten ebenfalls davon, dass die Jahre seines Lebens nicht
spurlos an ihm vorüber gegangen waren.
Zusammengesunken
saß er da in seinem Sessel, die Augenlider geschlossen und hie und
da einen Seufzer von sich gebend. Es waren aber keine traurigen oder
gar schmerzvollen Seufzer, auch wenn sie aus seinem tiefsten Inneren
zu kommen schienen. Nein, dieser Mann strahlte eine friedvolle,
gelassene Ruhe aus. Ganz so, als ob ihn nichts erschüttern könnte.
Zufriedenheit erfüllte den gesamten Raum.
Ein
Klopfen an der Zimmertüre durchbrach die Stille des Raumes. Der Mann
öffnete seine Augenlider und bat den Anklopfenden doch einzutreten.
Die
Tür öffnete sich und herein trat eine lange, hagere Gestalt.
Gehüllt in einen schwarzen Mantel, welcher viel zu groß schien und
an dem Hageren hing, als ob er gar nicht ihm gehörte.
„Guten
Abend“, sagte der Eintretende, ohne dass dabei ein kalter Luftzug
durch die geöffnete Türe in das Zimmer gelangte, wie der geneigte
Leser dies jetzt vielleicht erwartet.
„Guten
Abend“ erwidernd, betrachtete der im Raum Sitzende den
Eintretenden.
„Womit
kann ich dienen?“ schallte es der hageren Gestalt entgegen.
„Mit
Deiner restlichen Lebenszeit“, sagte der Hagere, „denn ich bin
gekommen, Dich abzuholen. Hätte vorher aber noch die ein oder andere
Frage.“
„Dann
nehmen Sie doch bitte Platz und ich werde sehen, ob ich Ihre Fragen
beantworten kann“ bekam dieser wiederum Antwort. Und der in seinem
Ohrensessel sitzende Mann mittleren Alters gab seine Antwort ruhig,
äußerst gelassen und selbstsicher. Nicht die geringste Unruhe, oder
vielleicht gar Angst war in seiner Stimme wahr zu nehmen. Obwohl er
bereits erkannte, wer ihm da gegenüber stand, nachdem er eingetreten
war.
Es
war der Gevatter Tod.
Dieser,
erkennend, dass sein Gegenüber längst wusste, mit welchem Gast er
es zu tun hatte, begann also zu fragen.
„Du
weißt also wer ich bin?“, warf er eher feststellend, statt fragend
in den Raum. „Gut so, dann können wir gleich zur Sache kommen.“
„Sag
mir bitte, weshalb veranstaltet ihr Menschen solch ein Brimborium und
solch einen Zirkus, wenn es ans Sterben geht? Wovor habt ihr solche
Angst? Da gibt es die Einen, die allerdings auch nur glauben – weil
sie ja genau so wenig wissen, wie die Anderen -, dass alles vorbei
und damit beendet ist, wenn ich gekommen bin, sie abzuholen. Wenn es
also vorbei ist, dann weiß derjenige nichts von all dem Zirkus,
welchen man um seine Beerdigung veranstaltet. Wessen Ehre wird dann
gewürdigt? Ist es am Ende doch bloß die Eitelkeit der da
Bleibenden, der Lebenden? Wollen am Ende eigentlich sie die Ehre
dafür, dass sie jemanden so „gebührend“ beigesetzt haben? Wobei
sich in dem Wort „gebührend“ bereits der Inhalt wieder findet,
was die Lebenden Inhalt gebend für eine Bestattung empfinden. Und
die Ausführenden – der Mafia gleichende Unternehmen, welche sich
um jeden leblosen Körper streiten – kassieren auch noch
entsprechende Gebühren für die „Beseitigung“ eines Gestorbenen.
Wenn ich dies einmal so gnadenlos ausdrücken darf, wie ihr zumeist
während Euerer geliehenen Daseinszeit miteinander umgeht, dann würde
ich sagen, es sind einfach die anfallenden Müllbeseitigungsgebühren.
Die
Anderen wiederum glauben, dass ich sie nur vorübergehend abhole,
weil das Leben an sich ja trotzdem weitergeht. Wieder Andere glauben,
ich hole sie von Zeit zu Zeit ab, weil sie immer wieder auf die Erde
kommen wollen, respektive müssen. All diese allerdings würden
wiederum ganz sicher auf derart blumige und huldvolle
Beileids-Bekundungen, wie Ihr sie ihnen zu Teil werden lasst, gerne
verzichten, weil sie ja noch längst nicht mit dem Leben
abgeschlossen haben, sondern nur ihr Dasein für eine gewisse Zeit
unterbrochen haben, bzw. beendeten. Also auch hier wohl nur die
Eitelkeiten der Überlebenden. Welche der Angehörigen wohl am
meisten, kostspieligsten und würdevollsten bestatten lässt?“
Diese
Fragen, welche der Tod dem Manne stellte, hatte sich dieser sein
ganzes Leben, oder sollte man besser sagen, sein ganzes Dasein lang
selbst schon immer und immer wieder gestellt. Und er hatte Antworten
gefunden, allerdings hatten diese nur für ihn selber eine gewisse
Gültigkeit. Deshalb saß er auch nach wie vor so ruhig in seinem
Sessel, ohne jegliche Angst, Unruhe und Aufgeregtheit. Im Gegenteil.
Er fand es wohltuend, sich Auge in Auge mit Gevatter Tod über Anfang
und Ende jeglichen Daseins zu unterhalten.
„Zeit“
sagte Gevatter Tod, „Zeit ist doch nur eine Einteilung, eine Mess-
und Maßeinheit, welche ihr Menschen euch geschaffen habt. Woher
kommt sie, was teilt sie ein? Welcher Teil von was ist die Zeit?“
Während
der Tod dieses zum einen als Feststellung treffend und andererseits
fragend in den Raum stellte, wurde dem Manne auch wieder bewusst,
dass auch in diesem Raume eine Uhr tickte, welche die Sekunden,
Minuten und Stunden anzeigte und ein Kalender an der Wand hing, der
Tage, Wochen und Monate einteilte. Und beides waren Maßeinheiten,
welche Etwas einteilten. Etwas, das der Mensch Zeit nannte.
„Und
dann Eure Bestattungen und anschließenden Leichenfeiern“ fuhr der
Tod in seinen Ausführungen weiter fort. „Da beginnt, nachdem ich
gekommen bin und wieder einmal Jemanden abhole, dessen Zeit
abgelaufen ist und der nun eine Reise – wohin auch immer - antritt,
ein Szenario, ein bürokratischer und unmenschlicher Ablauf, der
seinesgleichen sucht. Das Ganze verbunden mit einem ungeheuer
finanziellen und materiellem Aufwand, dass ich mich frage, ob ihr
Eure Zeit wirklich nicht besser zu nutzen wisst, könnt oder wollt?“
Aufmerksam
hörte der Mann, nach wie vor sehr gelassen in seinem Ohrensessel
ruhend zu und dachte bei sich: „wo er recht hat, hat er recht.
Diese Gedanken gingen mir lange, bevor er an meine Türe klopfte um
mich abzuholen, selber in dieser oder ähnlichen Art durch den Kopf.“
Es
gab in der Vergangenheit bereits den einen oder anderen Todesfall in
seiner näheren Umgebung, im Freundeskreis und der Verwandtschaft. Er
hatte auch schon an der einen oder anderen Beerdigung teilgenommen
und immer - insbesondere gerade während der Trauerzeremonien –
nahm er sehr bewusst wahr, was da vor sich ging.
Er
war keiner von jenen Trauernden, die Unmengen von Tränen am Grab
eines Verstorbenen vergossen, psychische und physische Zusammenbrücke
erlitten. Nein, er ging sehr sachlich und bewusst mit dem Tod um.
Mitten
in diese Gedanken hinein hörte er, wie Gevatter Tod in seinen
Ausführungen weiter fort fuhr:
„Wenn
einer glaubt, dass es nach dem Tod mit allem vorbei sei, weshalb
lässt man ihm dann ein Denkmal erbauen? Nichts anderes sind doch
Euere Gräber, mit Blumen und Grabsteinen, oder anderen
Äußerlichkeiten versehen? Was vorbei ist, ist vorbei. Da gibt es
nichts mehr zu verehren, zu betrauern, zu beweihräuchern. Da ist ja
angeblich nichts mehr und da kommt ja auch nichts mehr.
Wenn
die Müllabfuhr Woche für Woche kommt und den Müll abholt, dann
veranstaltet ihr es deswegen doch auch keinerlei Trauer-Zeremonien,
nur weil der Müll nun an den vorgesehenen Platz gebracht wird?
Das
Einzige, was mir dazu einfällt ist, dass man dem nun Gestorbenen
vielleicht während seiner Daseinszeit ein wenig mehr an Ehre, Würde
und Mitgefühl hätte zukommen lassen können, ja wahrscheinlich
sollen.
Sollte
es allerdings, nach dem ich Einen von Euch abgeholt habe, danach doch
noch Etwas geben, dann gibt es erst recht nichts zu verehren, zu
betrauern und zu beweihräuchern. Denn dann hat sich dieser Abgeholte
ja nur auf eine zeitliche Reise begeben und bereitet sich wohl auch
wieder auf seine Rückkehr vor.
Wenn
ihr eine Urlaubsreise antretet, dann grabt ihr doch auch nicht jedes
Mal eine Grube und errichtet einen Gedenkstein? Was also ist es
wirklich, welche Intentionen bewegen Euch tatsächlich, ein
derartiges Brimborium zu veranstalten? Es ist das Nichtwissen, die
Unkenntnis von Leben und Tod und Eure Eitelkeit.“
„Was
soll ich Dir darauf antworten“, fragte der in seinem Sessel
Ruhende? „Du hast Dir Deine Fragen ja selbst bereits beantwortet
und ich kann Dir nicht im Geringsten widersprechen.“
„Gut“,
erwiderte daraufhin Gevatter Tod, „dann lass uns, nachdem wir dies
auch geklärt hätten, gehen“.
„Warum
nicht“, dachte der Mann, „dieser Gesprächspartner scheint mir
mehr Vernunft zu haben, als viele von denjenigen, welche sich lebend
wähnen und glauben Macht zu haben. Sich Güter und Reichtum
anhäufen, dass selbst die nachkommenden Generationen noch
Jahrtausende davon zehren könnten, ohne es jemals aufbrauchen zu
können. Während ganze Völker zur gleichen Zeit verhungern.
Mitnehmen kann keiner was. Also warum dann nicht in der Zeit, in
welcher man da ist, so gut als möglich alle Menschen am Dasein
teilhaben lassen? Dies wäre Würde und Ehre im Handeln. Da bliebe
eine gute Erinnerung an die Verstorbenen, ohne dass man sich
krampfhaft an die guten Werke zu erinnern suchte.“
Und das
fahle Mondlicht fiel noch immer in den, von flackerndem Kerzenlicht
erhellten Raum. Das Flammenspiel der Kerzen warf ebenfalls immer noch
seine bizarren Schatten an die Wände und erhellte den Raum nur sehr
mäßig.
Inmitten
dieses Raumes stand immer noch ein geräumiger Ohrensessel. Nur war
dieser nicht mehr besetzt.
Eine
Türe fiel ins Schloss und der kalte Windhauch, welcher nun durch das
Zimmer wehte, verlöschte die Kerzen.
Stille
und Dunkelheit war es, was übrig blieb.
Aus
der Ferne aber hörte man, wie sich Gevatter Tod mit seinem Begleiter
immer noch sehr angeregt unterhielt. Und dies ergab ein weit
lebendigeres Bild, als dieser stille, dunkle und nun verlassen
daliegende Raum.
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