Donnerstag, 1. Mai 2014

Gevater Tod (aus dem Buch "Spiegelungen")


Gevater Tod


Fahles Mondlicht fiel in den, von flackerndem Kerzenlicht erhellten Raum. Das Flammenspiel der Kerzen warf bizarre Schatten an die Wände und leuchtete den Raum nur sehr mäßig aus.
Inmitten dieses Raumes saß in einem geräumigen Ohrensessel ein Mann mittleren Alters und sinnierte scheinbar teilnahmslos vor sich hin.

Der Mann wurde sich immer mehr dessen bewusst, dass die Jahre, welche er bis zum Ende seines Daseins noch vor sich hatte, inzwischen vermutlich erheblich weniger waren, als die Jahre, welche er bereits hinter sich hatte.

Längst war er auch schon ergraut und die vielen Furchen und Falten in seinem Gesicht zeugten ebenfalls davon, dass die Jahre seines Lebens nicht spurlos an ihm vorüber gegangen waren.

Zusammengesunken saß er da in seinem Sessel, die Augenlider geschlossen und hie und da einen Seufzer von sich gebend. Es waren aber keine traurigen oder gar schmerzvollen Seufzer, auch wenn sie aus seinem tiefsten Inneren zu kommen schienen. Nein, dieser Mann strahlte eine friedvolle, gelassene Ruhe aus. Ganz so, als ob ihn nichts erschüttern könnte. Zufriedenheit erfüllte den gesamten Raum.

Ein Klopfen an der Zimmertüre durchbrach die Stille des Raumes. Der Mann öffnete seine Augenlider und bat den Anklopfenden doch einzutreten.

Die Tür öffnete sich und herein trat eine lange, hagere Gestalt. Gehüllt in einen schwarzen Mantel, welcher viel zu groß schien und an dem Hageren hing, als ob er gar nicht ihm gehörte.

Guten Abend“, sagte der Eintretende, ohne dass dabei ein kalter Luftzug durch die geöffnete Türe in das Zimmer gelangte, wie der geneigte Leser dies jetzt vielleicht erwartet.

Guten Abend“ erwidernd, betrachtete der im Raum Sitzende den Eintretenden.

Womit kann ich dienen?“ schallte es der hageren Gestalt entgegen.

Mit Deiner restlichen Lebenszeit“, sagte der Hagere, „denn ich bin gekommen, Dich abzuholen. Hätte vorher aber noch die ein oder andere Frage.“

Dann nehmen Sie doch bitte Platz und ich werde sehen, ob ich Ihre Fragen beantworten kann“ bekam dieser wiederum Antwort. Und der in seinem Ohrensessel sitzende Mann mittleren Alters gab seine Antwort ruhig, äußerst gelassen und selbstsicher. Nicht die geringste Unruhe, oder vielleicht gar Angst war in seiner Stimme wahr zu nehmen. Obwohl er bereits erkannte, wer ihm da gegenüber stand, nachdem er eingetreten war.

Es war der Gevatter Tod.

Dieser, erkennend, dass sein Gegenüber längst wusste, mit welchem Gast er es zu tun hatte, begann also zu fragen.

Du weißt also wer ich bin?“, warf er eher feststellend, statt fragend in den Raum. „Gut so, dann können wir gleich zur Sache kommen.“

Sag mir bitte, weshalb veranstaltet ihr Menschen solch ein Brimborium und solch einen Zirkus, wenn es ans Sterben geht? Wovor habt ihr solche Angst? Da gibt es die Einen, die allerdings auch nur glauben – weil sie ja genau so wenig wissen, wie die Anderen -, dass alles vorbei und damit beendet ist, wenn ich gekommen bin, sie abzuholen. Wenn es also vorbei ist, dann weiß derjenige nichts von all dem Zirkus, welchen man um seine Beerdigung veranstaltet. Wessen Ehre wird dann gewürdigt? Ist es am Ende doch bloß die Eitelkeit der da Bleibenden, der Lebenden? Wollen am Ende eigentlich sie die Ehre dafür, dass sie jemanden so „gebührend“ beigesetzt haben? Wobei sich in dem Wort „gebührend“ bereits der Inhalt wieder findet, was die Lebenden Inhalt gebend für eine Bestattung empfinden. Und die Ausführenden – der Mafia gleichende Unternehmen, welche sich um jeden leblosen Körper streiten – kassieren auch noch entsprechende Gebühren für die „Beseitigung“ eines Gestorbenen. Wenn ich dies einmal so gnadenlos ausdrücken darf, wie ihr zumeist während Euerer geliehenen Daseinszeit miteinander umgeht, dann würde ich sagen, es sind einfach die anfallenden Müllbeseitigungsgebühren.

Die Anderen wiederum glauben, dass ich sie nur vorübergehend abhole, weil das Leben an sich ja trotzdem weitergeht. Wieder Andere glauben, ich hole sie von Zeit zu Zeit ab, weil sie immer wieder auf die Erde kommen wollen, respektive müssen. All diese allerdings würden wiederum ganz sicher auf derart blumige und huldvolle Beileids-Bekundungen, wie Ihr sie ihnen zu Teil werden lasst, gerne verzichten, weil sie ja noch längst nicht mit dem Leben abgeschlossen haben, sondern nur ihr Dasein für eine gewisse Zeit unterbrochen haben, bzw. beendeten. Also auch hier wohl nur die Eitelkeiten der Überlebenden. Welche der Angehörigen wohl am meisten, kostspieligsten und würdevollsten bestatten lässt?“

Diese Fragen, welche der Tod dem Manne stellte, hatte sich dieser sein ganzes Leben, oder sollte man besser sagen, sein ganzes Dasein lang selbst schon immer und immer wieder gestellt. Und er hatte Antworten gefunden, allerdings hatten diese nur für ihn selber eine gewisse Gültigkeit. Deshalb saß er auch nach wie vor so ruhig in seinem Sessel, ohne jegliche Angst, Unruhe und Aufgeregtheit. Im Gegenteil. Er fand es wohltuend, sich Auge in Auge mit Gevatter Tod über Anfang und Ende jeglichen Daseins zu unterhalten.

Zeit“ sagte Gevatter Tod, „Zeit ist doch nur eine Einteilung, eine Mess- und Maßeinheit, welche ihr Menschen euch geschaffen habt. Woher kommt sie, was teilt sie ein? Welcher Teil von was ist die Zeit?“

Während der Tod dieses zum einen als Feststellung treffend und andererseits fragend in den Raum stellte, wurde dem Manne auch wieder bewusst, dass auch in diesem Raume eine Uhr tickte, welche die Sekunden, Minuten und Stunden anzeigte und ein Kalender an der Wand hing, der Tage, Wochen und Monate einteilte. Und beides waren Maßeinheiten, welche Etwas einteilten. Etwas, das der Mensch Zeit nannte.

Und dann Eure Bestattungen und anschließenden Leichenfeiern“ fuhr der Tod in seinen Ausführungen weiter fort. „Da beginnt, nachdem ich gekommen bin und wieder einmal Jemanden abhole, dessen Zeit abgelaufen ist und der nun eine Reise – wohin auch immer - antritt, ein Szenario, ein bürokratischer und unmenschlicher Ablauf, der seinesgleichen sucht. Das Ganze verbunden mit einem ungeheuer finanziellen und materiellem Aufwand, dass ich mich frage, ob ihr Eure Zeit wirklich nicht besser zu nutzen wisst, könnt oder wollt?“

Aufmerksam hörte der Mann, nach wie vor sehr gelassen in seinem Ohrensessel ruhend zu und dachte bei sich: „wo er recht hat, hat er recht. Diese Gedanken gingen mir lange, bevor er an meine Türe klopfte um mich abzuholen, selber in dieser oder ähnlichen Art durch den Kopf.“

Es gab in der Vergangenheit bereits den einen oder anderen Todesfall in seiner näheren Umgebung, im Freundeskreis und der Verwandtschaft. Er hatte auch schon an der einen oder anderen Beerdigung teilgenommen und immer - insbesondere gerade während der Trauerzeremonien – nahm er sehr bewusst wahr, was da vor sich ging.

Er war keiner von jenen Trauernden, die Unmengen von Tränen am Grab eines Verstorbenen vergossen, psychische und physische Zusammenbrücke erlitten. Nein, er ging sehr sachlich und bewusst mit dem Tod um.

Mitten in diese Gedanken hinein hörte er, wie Gevatter Tod in seinen Ausführungen weiter fort fuhr:
Wenn einer glaubt, dass es nach dem Tod mit allem vorbei sei, weshalb lässt man ihm dann ein Denkmal erbauen? Nichts anderes sind doch Euere Gräber, mit Blumen und Grabsteinen, oder anderen Äußerlichkeiten versehen? Was vorbei ist, ist vorbei. Da gibt es nichts mehr zu verehren, zu betrauern, zu beweihräuchern. Da ist ja angeblich nichts mehr und da kommt ja auch nichts mehr.

Wenn die Müllabfuhr Woche für Woche kommt und den Müll abholt, dann veranstaltet ihr es deswegen doch auch keinerlei Trauer-Zeremonien, nur weil der Müll nun an den vorgesehenen Platz gebracht wird?

Das Einzige, was mir dazu einfällt ist, dass man dem nun Gestorbenen vielleicht während seiner Daseinszeit ein wenig mehr an Ehre, Würde und Mitgefühl hätte zukommen lassen können, ja wahrscheinlich sollen.

Sollte es allerdings, nach dem ich Einen von Euch abgeholt habe, danach doch noch Etwas geben, dann gibt es erst recht nichts zu verehren, zu betrauern und zu beweihräuchern. Denn dann hat sich dieser Abgeholte ja nur auf eine zeitliche Reise begeben und bereitet sich wohl auch wieder auf seine Rückkehr vor.

Wenn ihr eine Urlaubsreise antretet, dann grabt ihr doch auch nicht jedes Mal eine Grube und errichtet einen Gedenkstein? Was also ist es wirklich, welche Intentionen bewegen Euch tatsächlich, ein derartiges Brimborium zu veranstalten? Es ist das Nichtwissen, die Unkenntnis von Leben und Tod und Eure Eitelkeit.“

Was soll ich Dir darauf antworten“, fragte der in seinem Sessel Ruhende? „Du hast Dir Deine Fragen ja selbst bereits beantwortet und ich kann Dir nicht im Geringsten widersprechen.“

Gut“, erwiderte daraufhin Gevatter Tod, „dann lass uns, nachdem wir dies auch geklärt hätten, gehen“.

Warum nicht“, dachte der Mann, „dieser Gesprächspartner scheint mir mehr Vernunft zu haben, als viele von denjenigen, welche sich lebend wähnen und glauben Macht zu haben. Sich Güter und Reichtum anhäufen, dass selbst die nachkommenden Generationen noch Jahrtausende davon zehren könnten, ohne es jemals aufbrauchen zu können. Während ganze Völker zur gleichen Zeit verhungern. Mitnehmen kann keiner was. Also warum dann nicht in der Zeit, in welcher man da ist, so gut als möglich alle Menschen am Dasein teilhaben lassen? Dies wäre Würde und Ehre im Handeln. Da bliebe eine gute Erinnerung an die Verstorbenen, ohne dass man sich krampfhaft an die guten Werke zu erinnern suchte.“

Und das fahle Mondlicht fiel noch immer in den, von flackerndem Kerzenlicht erhellten Raum. Das Flammenspiel der Kerzen warf ebenfalls immer noch seine bizarren Schatten an die Wände und erhellte den Raum nur sehr mäßig.
Inmitten dieses Raumes stand immer noch ein geräumiger Ohrensessel. Nur war dieser nicht mehr besetzt.

Eine Türe fiel ins Schloss und der kalte Windhauch, welcher nun durch das Zimmer wehte, verlöschte die Kerzen.

Stille und Dunkelheit war es, was übrig blieb.

Aus der Ferne aber hörte man, wie sich Gevatter Tod mit seinem Begleiter immer noch sehr angeregt unterhielt. Und dies ergab ein weit lebendigeres Bild, als dieser stille, dunkle und nun verlassen daliegende Raum.

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