Das
Kettenkarussell
Auf
einer, sich weit ausdehnenden grünen Ebene steht ein überdimensional
großes Kettenkarussell.
Ringsumher
herrscht ein geschäftiges Treiben tausender Menschen. Näher tretend
lässt sich feststellen, dass die riesigen Zahnräder von übergroßen
Kurbeln, vier an der Zahl und ausgerichtet nach allen
Himmelsrichtungen, in Bewegung gebracht werden, an welchen unzählige
Menschen mit ihrer ganzen Kraft drehen, um so den Drehkranz in eine
rotierende Bewegung zu versetzen.
Die
Fahrgastplätze, jeder einzelne einem Elfenbeinturm ähnelnd, sind an
zigfachen großen eisernen Ketten, bestehend aus vielen einzelnen
Kettengliedern aufgehängt.
Jeder
Fahrgastsitz ist mit einer güldenen, beschrifteten Tafel versehen.
Daran lässt sich ablesen, wer als Fahrgast dieses Gefährt, welches
in seiner ursprünglichen Bedeutung einmal als Kinderspielzeug und
Fahrgeschäft gedacht war, benutzen darf.
Die
Beschriftung der einzelnen Tafeln ist in so großen Lettern
geschrieben, dass man weder eine Brille, noch ein Vergrößerungsglas
benötigt, um zu entziffern, was darauf vermerkt ist. Da steht auf
der einen Tafel Medizin, auf der nächsten Biologie, der übernächsten
Chemie. Dann gibt es da noch Fahrgastsitzplätze mit den
Bezeichnungen Mathematik, Philosophie, Theologie,
Wirtschafts-Wissenschaft. Mit einem Blick lassen sich gar nicht alle
einzelnen Fahrgastplätze ausmachen.
Nach
einer geraumen Zeit nähern sich verschiedenste Personen dem
Kettenkarussell und steigen nach und nach ein. Um aber an den jeweils
für sie bestimmten Fahrgastkorb zu gelangen, müssen diese erst
einige Stufen und Treppen überwinden. Vorbei an den Menschen, welche
an den riesigen Antriebskurbeln stehen. Diese warten scheinbar nur
auf ein Zeichen, worauf sie ihre Arbeit aufnehmen und mit dem Drehen
der Kurbeln beginnen können, in Wahrheit eigentlich müssen. Dieses
Zeichen erhalten sie von ein paar auserwählten, in Uniformen
gehüllte so genannten Kontrolleuren, welche rings um den Drehkranz
verteilt stehen und wiederum nur auf ein Zeichen der Einsteigenden
warten.
Als
der letzte Fahrgast zugestiegen ist, geben die Auserwählten wie auf
Kommando ihr Zeichen und die unzähligen Menschen an den Kurbeln
beginnen mit ihrer ganzen Kraft zu drehen.
Der
Drehkranz nimmt schnell Geschwindigkeit auf und kommt so immer mehr
in Fahrt, so dass sich die einzelnen Personen in ihren
Fahrgastsitzplätzen immer mehr vom Boden und dem Drehkranz
entfernen.
Das
Karussell nimmt nach und nach an Fahrt zu und je mehr es an
Geschwindigkeit gewinnt und Fahrt aufnimmt, umso schneller drehen die
Menschen an den Kurbeln. Sie können gar nicht mehr davon lassen, so
als seien sie selbst an das Kettenkarussell gekettet.
Mit
rasend zunehmender Geschwindigkeit gewinnen auch die Fahrgäste in
ihren Körben an Höhe und scheinen sich immer mehr voneinander zu
entfernen.
Menschliche
Laute und Wortfetzen hallen durch die Luft. Sie kommen von den immer
höher entschwebenden Insassen der Fahrgastplätze, welche sich,
trotz der rasenden Fahrt etwas zu zurufen versuchen.
Wortfetzen
wie: „mein Platz ist der einzig wahre“, oder „mein Platz ist
der beste“ sind bruchstückhaft zu verstehen. Dann wieder vernimmt
man: „nur von meinem Platz aus hat man den besten Überblick.“
Ein anderer ruft: „von hier aus hat man den besten Blick auf die
ganze Welt und deren Geschehen.“ Ein jeder will scheinbar dem
anderen seine Sicht und seinen Blickwinkel kundtun. Und man hört sie
hin und wieder jubilierende Ausrufe von sich geben, welche Höhe sie
bereits erreicht haben und mit welcher Geschwindigkeit sie in diese
kamen und sich immer weiter von allem Irdischen entfernten.
Inzwischen
werden die ersten der kurbelnden Menschen müde von ihrer äußerst
anstrengenden Tätigkeit. Einer nach dem anderen fällt von der
Kurbel ab. Aber noch ehe man diese Ermüdeten und Erschlafften von
dem Karussell entfernen kann, werden sie schon von neuen jungen und
frischen Kräften abgelöst. Somit dreht sich das Karussell ohne
jegliche Unterbrechung weiter. Dabei immer schneller werdend und wohl
kaum mehr anzuhalten.
Die
ersten Fahrgäste werden, ob der Schwindel erregenden Höhe, des
Fahrtwindes und der immensen Geschwindigkeit, mit welchem sich das
Karussell nun bereits dreht, ganz grün im Gesicht. Andere wiederum
werden ganz bleich und sie übergeben sich. Einer nach dem anderen
spuckt seine Weisheiten aus und gibt alles wieder von sich. Aufgrund
der Zentripetal- und Corioliskraft landet das so von sich Gegebene
mitten im Gesicht eines benachbarten Fahrgastes, welcher sich in
einem anderen Fahrgastkorb schon mit dem eigenen, von sich Gegebenen
umher plagt.
Ein
kleines Kind, das dieses Schauspiel zuerst noch mit sehnsuchtsvollen
Blicken beobachtet hatte, steht nun verwundert davor.
Die
noch vor kurzer Zeit vorhandenen Gelüste, selbst einmal mit diesem
Kettenkarussell fahren zu wollen, nehmen mit fortdauernder
Betrachtung mehr und mehr ab. Nun ist es mehr als froh, mit beiden
Beinen fest auf dem Boden dieser Ebene zu stehen.
Und
während es noch so in Gedanken vor sich hin sinniert, hört es ein
lautes Knirschen und Knacken. Mit lautem Getöse reißen nach und
nach die Ketten vom Drehkranz des Karussells ab und all die Fahrgäste
werden durch die Luft, in alle Himmelsrichtungen verteilt, mitsamt
ihren Fahrgastkörben geschleudert.
Und
noch nach Jahren lassen sich Spuren dieses Schauspiels erkennen,
sowie die eine oder andere Tafel mit dem Aufdruck der verschiedensten
Wissenschaften auffinden.
Das
gesamte, auf diesem Kettenkarussell versammelte Wissen hatte die
Wissenschaftler nicht vor ihrem Absturz bewahren können und holte
sie, dank göttlicher Schwerkraft wieder auf ihr irdisches Dasein
zurück.
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