Donnerstag, 1. Mai 2014

Das Kettenkarussel (aus dem Buch "Spiegelungen")


Das Kettenkarussell


Auf einer, sich weit ausdehnenden grünen Ebene steht ein überdimensional großes Kettenkarussell.

Ringsumher herrscht ein geschäftiges Treiben tausender Menschen. Näher tretend lässt sich feststellen, dass die riesigen Zahnräder von übergroßen Kurbeln, vier an der Zahl und ausgerichtet nach allen Himmelsrichtungen, in Bewegung gebracht werden, an welchen unzählige Menschen mit ihrer ganzen Kraft drehen, um so den Drehkranz in eine rotierende Bewegung zu versetzen.

Die Fahrgastplätze, jeder einzelne einem Elfenbeinturm ähnelnd, sind an zigfachen großen eisernen Ketten, bestehend aus vielen einzelnen Kettengliedern aufgehängt.

Jeder Fahrgastsitz ist mit einer güldenen, beschrifteten Tafel versehen. Daran lässt sich ablesen, wer als Fahrgast dieses Gefährt, welches in seiner ursprünglichen Bedeutung einmal als Kinderspielzeug und Fahrgeschäft gedacht war, benutzen darf.

Die Beschriftung der einzelnen Tafeln ist in so großen Lettern geschrieben, dass man weder eine Brille, noch ein Vergrößerungsglas benötigt, um zu entziffern, was darauf vermerkt ist. Da steht auf der einen Tafel Medizin, auf der nächsten Biologie, der übernächsten Chemie. Dann gibt es da noch Fahrgastsitzplätze mit den Bezeichnungen Mathematik, Philosophie, Theologie, Wirtschafts-Wissenschaft. Mit einem Blick lassen sich gar nicht alle einzelnen Fahrgastplätze ausmachen.

Nach einer geraumen Zeit nähern sich verschiedenste Personen dem Kettenkarussell und steigen nach und nach ein. Um aber an den jeweils für sie bestimmten Fahrgastkorb zu gelangen, müssen diese erst einige Stufen und Treppen überwinden. Vorbei an den Menschen, welche an den riesigen Antriebskurbeln stehen. Diese warten scheinbar nur auf ein Zeichen, worauf sie ihre Arbeit aufnehmen und mit dem Drehen der Kurbeln beginnen können, in Wahrheit eigentlich müssen. Dieses Zeichen erhalten sie von ein paar auserwählten, in Uniformen gehüllte so genannten Kontrolleuren, welche rings um den Drehkranz verteilt stehen und wiederum nur auf ein Zeichen der Einsteigenden warten.

Als der letzte Fahrgast zugestiegen ist, geben die Auserwählten wie auf Kommando ihr Zeichen und die unzähligen Menschen an den Kurbeln beginnen mit ihrer ganzen Kraft zu drehen.

Der Drehkranz nimmt schnell Geschwindigkeit auf und kommt so immer mehr in Fahrt, so dass sich die einzelnen Personen in ihren Fahrgastsitzplätzen immer mehr vom Boden und dem Drehkranz entfernen.

Das Karussell nimmt nach und nach an Fahrt zu und je mehr es an Geschwindigkeit gewinnt und Fahrt aufnimmt, umso schneller drehen die Menschen an den Kurbeln. Sie können gar nicht mehr davon lassen, so als seien sie selbst an das Kettenkarussell gekettet.

Mit rasend zunehmender Geschwindigkeit gewinnen auch die Fahrgäste in ihren Körben an Höhe und scheinen sich immer mehr voneinander zu entfernen.
Menschliche Laute und Wortfetzen hallen durch die Luft. Sie kommen von den immer höher entschwebenden Insassen der Fahrgastplätze, welche sich, trotz der rasenden Fahrt etwas zu zurufen versuchen.
Wortfetzen wie: „mein Platz ist der einzig wahre“, oder „mein Platz ist der beste“ sind bruchstückhaft zu verstehen. Dann wieder vernimmt man: „nur von meinem Platz aus hat man den besten Überblick.“ Ein anderer ruft: „von hier aus hat man den besten Blick auf die ganze Welt und deren Geschehen.“ Ein jeder will scheinbar dem anderen seine Sicht und seinen Blickwinkel kundtun. Und man hört sie hin und wieder jubilierende Ausrufe von sich geben, welche Höhe sie bereits erreicht haben und mit welcher Geschwindigkeit sie in diese kamen und sich immer weiter von allem Irdischen entfernten.

Inzwischen werden die ersten der kurbelnden Menschen müde von ihrer äußerst anstrengenden Tätigkeit. Einer nach dem anderen fällt von der Kurbel ab. Aber noch ehe man diese Ermüdeten und Erschlafften von dem Karussell entfernen kann, werden sie schon von neuen jungen und frischen Kräften abgelöst. Somit dreht sich das Karussell ohne jegliche Unterbrechung weiter. Dabei immer schneller werdend und wohl kaum mehr anzuhalten.

Die ersten Fahrgäste werden, ob der Schwindel erregenden Höhe, des Fahrtwindes und der immensen Geschwindigkeit, mit welchem sich das Karussell nun bereits dreht, ganz grün im Gesicht. Andere wiederum werden ganz bleich und sie übergeben sich. Einer nach dem anderen spuckt seine Weisheiten aus und gibt alles wieder von sich. Aufgrund der Zentripetal- und Corioliskraft landet das so von sich Gegebene mitten im Gesicht eines benachbarten Fahrgastes, welcher sich in einem anderen Fahrgastkorb schon mit dem eigenen, von sich Gegebenen umher plagt.

Ein kleines Kind, das dieses Schauspiel zuerst noch mit sehnsuchtsvollen Blicken beobachtet hatte, steht nun verwundert davor.

Die noch vor kurzer Zeit vorhandenen Gelüste, selbst einmal mit diesem Kettenkarussell fahren zu wollen, nehmen mit fortdauernder Betrachtung mehr und mehr ab. Nun ist es mehr als froh, mit beiden Beinen fest auf dem Boden dieser Ebene zu stehen.

Und während es noch so in Gedanken vor sich hin sinniert, hört es ein lautes Knirschen und Knacken. Mit lautem Getöse reißen nach und nach die Ketten vom Drehkranz des Karussells ab und all die Fahrgäste werden durch die Luft, in alle Himmelsrichtungen verteilt, mitsamt ihren Fahrgastkörben geschleudert.

Und noch nach Jahren lassen sich Spuren dieses Schauspiels erkennen, sowie die eine oder andere Tafel mit dem Aufdruck der verschiedensten Wissenschaften auffinden.
Das gesamte, auf diesem Kettenkarussell versammelte Wissen hatte die Wissenschaftler nicht vor ihrem Absturz bewahren können und holte sie, dank göttlicher Schwerkraft wieder auf ihr irdisches Dasein zurück.

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